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Da muss ich kurz ran – Die Multitasker, die wir geworden sind und die Vorbilder, die wir sein müssen

Aktualisiert: 4. Sept. 2020



"Wer überall ist, ist nirgendwo.“ – Seneca, Philosoph

Unser Zuhause ist unser Rückzugsort, unser happy place und unsere Familienzentrale. Wir alle gehen tagsüber unsere Wege (Arbeit, Schule, Kindergarten, etc.), aber zuhause kommen wir zusammen. Wir lassen die Arbeit am Arbeitsplatz und die Schule in der Schule und freuen uns auf den Abend mit der Familie.

Moment, ist das wirklich so? Nein. Heutzutage sieht diese Realität anders aus. Wir kommen abends nach Hause – und unsere Arbeit und Schulklasse gleich mit. Im Smartphone in der Hosentasche.


Einen festen Feierabend wie früher gibt es nicht mehr. Jeder arbeitet, wann er will, weil dies nicht mehr an den Computer an der Arbeit gebunden ist. Somit flattern auch abends noch E-Mails ins Postfach. Da abzuschalten fällt schwer. Und ich sage auch nicht, dass wir jetzt alle unsere Laptops, Tablets und Smartphones auf der Arbeit lassen und abends nicht mehr erreichbar sein sollen. Dies ist nicht mehr möglich und oft will man das ja auch gar nicht. Aber umso wichtiger ist es, dass man für sich selbst und in der Familie klare Regelungen trifft. Denn es geht nicht nur uns Erwachsenen so. Auch die Kinder haben die ganze Schulklasse in der Hosentasche, in Form eines Klassenchats. Dass man da als Kind nichts verpassen möchte ist verständlich. Und somit wird alle paar Minuten auf das Display geguckt.

Und hier sind wir beim Problem angelangt:

Weil alle paar Sekunden oder Minuten WhatsApp-Nachrichten, Snaps (Snapchat), Instagram-Benachrichtigungen, E-Mails, Aufforderungen von Spielen, Nachrichten-Updates, etc. aufleuchten, haben wir das Gefühl, dass wir andauernd nachschauen müssen. Es könnte ja was Wichtiges sein. Und selbst wenn es nicht aufleuchtet, schauen wir trotzdem drauf.


Heutzutage ist das wie gesagt leider nicht so einfach, ein Vorbild bezüglich der Nutzung digitaler Medien zu sein. Denn wir sind zu absoluten Multitaskern geworden, deren Aufmerksamkeit von vielen Dingen gleichzeitig verlangt wird. Eine E-Mail vom Chef hier, eine vom Kollegen da und dann noch die WhatsApp, dass im Büro dieses eine Dokument nicht gefunden wird, obwohl es dringend gebraucht würde. Spätestens, wenn man einen Blick aufs Smartphone geworfen hat, lassen einen die Nachrichten sowieso nicht mehr los, warum dann nicht einfach kurz antworten.


Aber genau diese örtlich und zeitlich unbegrenzten Möglichkeiten sollten wir reflektieren. Ist es wirklich nötig, während des Filmschauens auch am Smartphone zu sein? Ist es wirklich nötig, während des Spazierengehens mit dem Kind im Kinderwagen nebenher am Smartphone zu tippen oder zu telefonieren? Es ist bestimmt verführerisch, denn so ein Spaziergang kann auch mal echt langweilig sein, aber wir müssen uns vor Augen halten, wie sensibel gerade Babys noch sind und alles um sich herum wahrnehmen, also auch, wenn Mama oder Papa zwar körperlich, aber nicht geistig anwesend sind (um bei dem Beispiel mit dem Kinderwagen zu bleiben). Wenn das Baby also versucht, die Aufmerksamkeit der Eltern zu erlangen, indem es lacht, gluckst, auf Dinge zeigt, Laute macht, die aber auf ihr Smartphone schauen oder telefonieren, weiß das Baby nicht wie ihm geschieht. Es kann ja nicht wissen, dass Mamas Stimme gerade wütend klingt und die Stirn deshalb in Falten liegt, weil sie am anderen Ende des Telefons mit jemandem diskutiert. Das Baby wird also alles auf sich beziehen, was dann problematisch sein kann, wenn die Stimme und die Mimik mal wütend oder traurig ist.


In diesem Zusammenhang wird oft das in den 1970er-Jahren durchgeführte Still-Face-Experiment von Dr. Edward Tronick genannt. Er untersuchte das Verhalten von Babys, wenn die Mutter (die beiden sitzen sich gegenüber und schauen sich an) für zwei Minuten keine Gesichtsregungen mehr zeigt. Die Babys wurden sehr unruhig und versuchten durch Strampeln, Quengeln, Schreien die Aufmerksamkeit der Mutter wiederzuerlangen.

Jetzt kann man sich die Frage stellen, ob eine ähnliche Situation erschaffen wird, wenn ich mein Baby auf dem Arm habe und währenddessen auf mein Smartphone schaue.

Ein Blick auf das Erwachsenenleben: Ich arbeitete schon an vielen Projekten (mit vielen E-Mail-Adressen) gleichzeitig und habe dann irgendwann beschlossen, von diversen Projekten die E-Mails nicht mehr auch auf mein Smartphone leiten zu lassen, sondern nur noch auf den PC. Somit war wenigstens schon mal dieses kurze Reingucken abends im Bett nicht mehr möglich. Denn dieser kurze Blick in die Mails hat mich viel Zeit und viele Nerven gekostet. So kam es nämlich dann, dass ich manchmal spät abends noch aus dem Bett gehüpft bin, weil mich eine bestimmte E-Mail nicht mehr losgelassen hat und ich nicht schlafen konnte und sie lieber noch kurz bearbeiten wollte. Als ich diese Reißleine, die E-Mails nicht mehr auf mein Smartphone zu bekommen, gezogen habe, war ich glücklicher und entspannter. Das ist aber ein Beispiel aus meinem persönlichen Leben, welches einen Weg aufzeigt, wie man die Nachrichten-Flut (und somit den Drang nachzusehen) auf dem Smartphone eingrenzen kann. Dass das nicht jedem möglich ist, aus beruflichen Gründen beispielsweise, weiß ich. Niemand soll sich auf die Füße getreten fühlen.

Wir sind immer Vorbilder. Ob wir wollen oder nicht, unsere Kinder schauen sich alles bei uns ab, nicht nur die guten Seiten, auch die schlechten. Und es ist heutzutage für Eltern wahrlich nicht einfach diese Gratwanderung jeden Tag zu meistern. Kinder wollen unsere ungeteilte Aufmerksamkeit und wenn sie die nicht bekommen, kann sich das Kind zweitrangig, unwichtig oder störend fühlen. Gefühle, die wir als Eltern oder Geschwister unter keinen Umständen in unseren Kindern hervorrufen wollen.

Ich merke das ja schon als große Schwester, wenn ich meine 7-jährige Schwester bei mir habe und die nachmittags soo gerne eine Folge (oder am liebsten drei) ihrer Lieblingsserie auf dem iPad schauen möchte, ich aber viel lieber was mit ihr draußen in der Natur unternehmen will. Sie verweist mich dann darauf, dass ich doch vorhin auch kurz am Laptop war. Dass ich nur kurz eine wichtige E-Mail beantworten musste als sie gerade kurz auf Toilette war spielt hier aber keine Rolle. Denn keine E-Mail dieser Welt würde es rechtfertigen, meiner Schwester das Gefühl zu geben, sie wäre gerade zweitrangig. Also versuche ich erst gar nicht, mich zu rechtfertigen, sondern entschuldige mich dafür und habe verdientermaßen ein schlechtes Gewissen. Und gehe dann aber doch mit ihr raus spielen, wo glücklicherweise nach ein paar Minuten kein einziger Gedanke mehr an irgendwelche Serien oder E-Mails gehegt wird.

Ich möchte betonen, dass ich hier keinesfalls Eltern an den Pranger stelle, die von zuhause aus arbeiten oder noch was erledigen müssen, obwohl schon Feierabend ist. Bei meiner Anekdote geht es darum, dass die Zeit von meiner Schwester und mir zeitlich limitiert ist, da ich nicht mehr zuhause wohne und ich ihr deshalb in diesen gemeinsamen Stunden meine 100% Aufmerksamkeit schenken möchte.

Um unsere Kinder zu erziehen, müssen wir also erstmal uns selbst erziehen. Wir können ihnen nicht vorwerfen dauernd am Handy zu hängen, wenn wir das selbst tun. Sich selbst zu erziehen erfordert eine Menge Disziplin und wird vor allem anfangs für viele frustrierende Momente sorgen. Da will man nur kurz aufs Handy gucken, ja warum eigentlich, und zack, hat man wieder draufgeschaut, obwohl es nicht mal nötig war.

Die Wahrscheinlichkeit ist höher, disziplinierter im eigenen Umgang zu werden, wenn man sich selbst klare Regeln auferlegt. Ich würde empfehlen, diese gemeinsam mit dem Kind zu gestalten, oder, wenn das Kind noch sehr klein ist, diese alleine aufzusetzen und versuchen diese einzuhalten. Um dieses nur-kurz-Draufgucken zu vermeiden könnte man das Smartphone beispielsweise einfach in eine Schublade legen oder in ein anderes Zimmer. Kleiner Aufwand, große Wirkung – versprochen!

Sonstige Richtlinien könnten wie folgt aussehen. Es sind Beispiele, aus denen man sich gerne welche aussuchen kann und seine eigene Liste erweitert oder abändert – denn jeder von uns führt ein anderes Leben und hat andere Gründe erreichbar sein zu müssen (die Position im Job oder eine Selbstständigkeit zum Beispiel):


  • Zuhause ist mein Handy auf stumm geschaltet

  • Wenn ich mit jemandem interagiere schaue ich nicht auf mein Handy und nehme auch keine Anrufe entgegen

  • Wenn ich doch mal einen wichtigen Anruf erwarte, kläre ich meine Familie über die Wichtigkeit auf und "warne" sie vor. So ist schon im Voraus abgeklärt, dass man nicht einfach irgendeinen Anruf annimmt, sondern, dass es dafür bestimmte Gründe gibt

  • Am Esstisch guckt niemand auf sein Handy

  • Es gibt Zeiten, die als feste Familienzeit eingeplant sind, Rituale, bei denen niemand sein Handy dabeihat: zum Beispiel ein gemeinsamer Lese- oder Filmabend

  • Ab einer bestimmten Uhrzeit abends ist Handy-Nachtruhe und alle Familienmitglieder legen ihr Handy in eine Vase oder Schublade oder Ähnliches, von wo es erst am nächsten Morgen wiedergeholt werden kann. Das kann natürlich gestaffelt ausfallen, gerade, wenn die Eltern abends noch arbeiten müssen, wenn die Kinder im Bett sind.

  • Es kann aber auch vereinbarte Zeiten geben, in denen man sich als Familie gegenseitig verschiedene Dinge am Handy zeigt: eine tolle, neue App, ein inspirierender Reise-Blog auf Instagram, etc. – auch gemeinsame Mediennutzungszeit ist es wert, in den Alltag mit aufgenommen zu werden.

„Wer überall ist, ist nirgendwo.“

Dieses Zitat des Philosophen Seneca finde ich so eindrücklich, dass ich es diesen Artikel einleiten lassen wollte.


Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir alle wohl noch Luft nach oben haben, etwas weniger Multitasker und dafür etwas mehr Vorbild zu werden. Dass wir klare Regeln in der Familie treffen, was die Smartphone-Nutzung und No-Go-Zonen angeht und uns immer austauschen und absprechen. Kein Tag ist wie der andere und wenn man mal einen wichtigen Anruf annehmen muss, obwohl gerade alle am Tisch sitzen, dann geht die Welt auch nicht unter. Es sollte nur nicht zur Gewohnheit werden und klar als Ausnahme kommuniziert werden. Denn, wer überall ist, ist zerstreut und kann seine Aufmerksamkeit nicht mehr den Momenten oder den Personen schenken, die im Hier und Jetzt passieren.


Bild: Photo by Ketut Subiyanto from Pexels

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